Seit 2016 arbeiten wir bei itdesign in einigen Unternehmenseinheiten mit Holacracy. Ganz im Sinne von ‚New Work‘ stehen dabei Selbstorganisation und Eigenverantwortung im Fokus. Zugleich handelt es sich auch um eine innovative Unternehmensphilosophie. Was genau Holacracy bedeutet, wie es abläuft und welche Chancen geboten werden, erklärt Geschäftsführer Dr. Jörg Leute in diesem Interview.
Zum Einstieg ganz kompakt: Was ist Holacracy für dich, Jörg?
Der Kern von Holacracy ist, dass eine Organisation einen Zweck haben muss, eine Purpose. Eine Organisation sollte demnach nicht nur dazu da sein, um Geld zu verdienen. Sie sollte einen Zweck erfüllen und ein Ziel vor Augen haben. Und dieses Ziel sollte in allen Funktionen manifestiert und verdeutlicht werden. Ein solcher Zweck, als etwas Großartiges und Visionäres, ist verbunden mit ganz konkreten Verantwortlichkeiten. Wenn ich also in einer Organisation mitarbeite, nehme ich eine bestimmte Rolle ein. Dabei ist allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern selbst überlassen, wie sie die gemeinsamen Ziele erreichen wollen. Dadurch, dass jede Person an der Organisation mitarbeitet und sie verändert, entwickelt sich die Organisation stets weiter und passt sich an die Umwelt an, um optimal reagieren zu können. Holacracy bietet daher eine Chance für jedes Individuum, Verantwortung zu übernehmen und sich selbst sowie die Organisation weiterzuentwickeln.
Was ist dabei das Besondere an Holacracy?
Holacracy unterscheidet sich vom traditionellen Bild der strukturellen Unternehmensorganisation: einer hierarchischen, pyramidenartigen Struktur. Diese steht jedoch meinst primär auf dem Papier – in der Realität sind Unternehmen nicht so geradlinig, sondern komplexe Systeme. Häufig gibt es eine Schattenhierarchie, bei der die gelebte Wahrheit stark von der offiziellen Hierarchie abweicht. Außerdem existieren strenge Vorgaben und begrenzte Aufgabenfelder: Was in der Stellenbeschreibung steht, wird erledigt. Was darüber hinaus geht, sollte entsprechend belohnt werden.
Holacracy hingegen unterstützt und fordert Selbstorganisation. Alle Akteure orientieren sich an gemeinsamen Zielen, können jedoch eigenständig intelligente Entscheidungen treffen. Eine Organisation funktioniert nämlich eigentlich am besten, wenn sie gar keine Chefs braucht, die genau sagen müssen, wie es funktioniert. Wenn es klare Regeln gibt, wird niemand gebraucht, der anleiten muss. Und ein genau solches Regelwerk ist Holacracy – ganz ohne Schattenhierarche, weil die dokumentierte und die tatsächliche Hierarchie deckungsgleich sind. Genau aus dem Grund wird in Holacracy sehr genau dokumentiert, wer eine Rolle hat. Die Entscheidungskompetenzen dieser Rolle darf die Person dann ausfüllen.
Und: Wenn etwas nicht geregelt ist, darf ich das machen – das ist im Traditionellen exakt umgekehrt. Allerdings: Auch in Holacracy geht es darum, für den Kunden da zu sein und die Organisation so anzupassen, dass sie ein tolles Ergebnis für den Kunden hervorbringt.
Und wie sieht die Umsetzung von Holacracy aus?
Bei Holacracy geht es darum, dass man Spannungen spürt und sagt: Wenn ich hier den Eindruck habe, dass etwas nicht so läuft, wie es laufen sollte, dann liegt eine gewisse Spannung vor. Dann hat jede Person, die an dieser Organisation mitwirkt, Macht und auch den Auftrag, die Organisation anzupassen. Denn jede Person ist beauftragt, dafür zu sorgen, dass die Organisation ihrem Zweck gerecht wird und hinsichtlich der Ziele funktioniert.
In der Praxis ist vor allem die Funktion der Rolle wichtig. Heruntergebrochen: Eine holarchische Organisation ist ein Kreis. Innerhalb dieses Kreises gibt es verschiedene Rollen. Eine Person nimmt dann eine oder typischerweise auch mehrere Rollen ein und übernimmt damit die Verantwortlichkeiten, die der oder den Rollen zugehörig sind. Dabei gibt es zwei zentrale Rollentypen, ‚Lead‘ und ‚Rep‘.
Ein ‚Lead‘ hat die Aufgabe Rollen zu besetzen, ein ‚Rep‘ vertritt die Interessen des Kreises nach außen. Sobald in einem Kreis viele Rollen existieren, ist es sinnvoll, diese wieder in Subkreise zu untergliedern. Somit entsteht eben auch kein Pyramiden-Modell, sondern ein zusammenhängendes Gefüge, das auf gegenseitigem Miteinander und Unterstützung beruht.
Welche besonderen Chancen siehst du in Holacracy?
Es entwickelt sich ständig weiter, das ist das Interessante bei Holacracy. Es geht darum, dass man mitmacht und sich aktiv beteiligt. Holacracy ist wirklich ein evolutionäres Modell. Jeder hat die Aufgabe wahrzunehmen, ob die Mission der Firma angenommen sowie umgesetzt werden kann, ob sie zur Umwelt passt. Und wenn nicht, eben auch selbst Änderung vorzunehmen.
Eine besondere Chance sehe ich außerdem vor allem darin, dass auch die leisen Stimmen gehört werden. Es gewinnen also nicht mehr diejenigen, die besonders laut auftreten und andere überstimmen, sondern jede und jeder hat die Chance gehört zu werden.
Wie wird denn eben diese Chance garantiert?
Es gibt spezielle Regelwerke, um sicherzustellen, dass jede Person bei der Entwicklung der Organisation mitwirken kann. Das wird vor allem in den Meetings deutlich: Es gibt einen Moderator, der dafür sorgt, dass Anliegen auch angemessen diskutiert werden und werden können. Er schützt leise und schwache Signale und bietet jedem Spannungsbringer genügend Raum. Außerdem ist wichtig, dass Entscheidungsgewalt grundsätzlich verteilt ist, denn sie geht nicht von zentraler Stelle aus, sondern verteilt sich auf ein Netzwerk an Rollen.
Jetzt hast du bereits die Moderation der Meetings angesprochen. Was ist denn darüber hinaus in den Meetings besonders zentral, um das Konzept Holacracy voranzubringen?
Ein konkretes Beispiel ist das Modell der „Check-Ins“ zu Beginn eines Meetings, indem alle Mitglieder die Möglichkeit bekommen, kurz zu erläutern, wie es ihnen geht und was sie eventuell bedrückt. Vor allem wird zwischen zwei Meeting-Modellen differenziert: dem Governance Meeting, in dem der Zweck der Organisation im Fokus steht und den Tacticals, in denen konkrete Projekte und Aktionen besprochen werden.
Wenn eine Spannung angesprochen wird, ist die Frage „Was brauchst du vom Kreis?“ besonders wichtig. Das ist einer der Hauptaspekte von Holacracy, die schnell unterschätzt werden. Die Meetings bleiben aber eben dadurch sehr effizient. Außerdem muss klar reflektiert werden: Was will ich? Was habe ich? Was benötige ich? Wenn eine Spannung im Meeting thematisiert wird, möchte man weiterkommen und eine Lösung finden. Dafür bin ich dann eben selbst verantwortlich und kann nicht einfach blind etwas in den Raum schreien.
Wird es denn auch mal anstrengend oder schwierig im Holacracy-Modell?
Jeder hat mal einen „Blödsinn-Moment“ und bringt eine weniger wichtige Spannung ein. Das muss dann aber eben auch durchgezogen werden.
Holacracy stellt eine Grenze dar für diejenigen, die ihre Chancen nicht selbst aktiv nutzen möchten und nicht bereit sind, sich in die Organisation einzubringen, indem sie Strukturen stärken oder verändern. Jeder arbeitet eigenständig und es bedarf individueller Entscheidungen.
Auch diejenigen, die eine Hierarchie und Status brauchen, denen kann es bei Hola schwerfallen.
Was funktioniert denn im Gegensatz dazu sehr gut?
Rundum: Die Meetings sind schneller und effizienter, sie bieten gleiche Chancen für alle und sind somit sehr fair strukturiert, die Firma ist und bleibt anpassungsfähig. Wenn ich eine Rolle beispielsweise nicht möchte, kann ich sie abgeben, da senkt Holacracy die Hemmschwelle. Holacracy bietet Chancen in ganz vielfältigen Bereichen und es wird sehr gut angenommen, selbst Verantwortung zu übernehmen und eigenständig purpose-orientiert zu arbeiten.
Und abschließend: Was ist deine Lieblingsrolle?
Gute Frage! Der Weiterentwicklungscoach! Hier geht es drum, Kolleginnen und Kollegen anzuspornen, neue Sachen zu probieren und gemeinsam mit ihnen zu überlegen, wo sie Energie haben und sich weiterentwickeln können. Man muss nicht immer kuscheln, sondern manches einfach direkt sagen.
Dr. Jörg Leute
Geschäftsführer der itdesign GmbH
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